Während
ANNA in erster Linie ein mit inszenierten Einschüben durchsetzter, gleichzeitig
dem cinéma verité verpflichteter
Dokumentarfilm über ein obdachloses, schwangeres junges Mädchen mit einem
Drogenproblem ist, inszeniert WUNDKANAL die Geschichte eines alten Nazis
namens Albert Filbert, der zu seiner Verantwortung im Hinblick auf die von
ihm während der Zeit des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen und zu den
Toten von Stammheim verhört wird, und thematisiert so das Verhältnis zwischen
deutschen Generationen: jener, die vom Nationalsozialismus und vom 2.
Weltkrieg geprägt war, und der darauf folgenden, die im Widerstand gegen das
nationalsozialistischen Erbe den bewaffneten Kampf wählte und in den
Untergrund ging, um der Gewalttätigkeit der Geschichte terroristische Gewalt
entgegen zu setzen: die Rote Armee Fraktion.
Alberto
Grifi war ein italienischer Experimentalfilmregisseur, der - neben seinem
Hauptwerk ANNA - mit Filmen wie La
verifica incerta, L'occhio è per
così dire l'evoluzione biologica di una lagrima/Autoritratto Auschwitz
(1965-68/2007) und anderen essayistischen Dokumenten seinen internationalen
Ruf als politisch engagierter Filmemacher begründet hat; während unter den
Deutschen dieser Generation (geboren Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre)
wohl kaum jemand anderer geeigneter gewesen ist, das von Schweigen,
Verdrängung und Hass geprägte Generationsverhältnis der Nachkriegszeit zu
thematisieren: Thomas Harlan, selbst Kind des von den Nazis hochgeschätzten
Regisseurs Veit Harlan, dessen berüchtigtster Film wohl die von den
Nationalsozialisten gefeierte Propagandaproduktion Jud Süss (1940) war. Vor diesem Hintergrund ist WUNDKANAL nicht
zuletzt als Abrechnung Thomas Harlans mit seinem Vater zu verstehen, zu dem
er zeitlebens ein zutiefst ambivalentes Verhältnis hatte.
Was
diese beiden zeitgeschichtlich, stilistisch und auch politisch so
unterschiedlichen Filme dennoch miteinander verbindet, ist das zentrale Thema
der Frage nach dem Wesen des Dokumentarischen schlechthin. Auf welche Weise
nähert man sich seinem Gegenstand? Wie kann die Wirklichkeit dokumentiert
werden; und verwandelt sie sich im Akt des Dokumentierens nicht wieder in
Fiktion? Ist die Fiktion am Ende, mit Jean Rouch gedacht, der Realität näher
als der ungebrochene, scheinbar bloß dokumentieren-wollende Gestus des cinéma vèrité? Oder können wir nur
durch die Beschäftigung mit der Wirklichkeit auf etwas stoßen, das zuvor in
unserer Vorstellung noch nicht enthalten war? Insofern als beide Filme auf
unterschiedliche Weisen das Terrain zwischen Dokumentation und filmischer
Inszenierung ausloten, erschaffen sie auf jeweils eigene Weise inszenierte
Realität, beziehungsweise eine Inszenierung, deren Herstellung anschaulich
wird, und innerhalb deren Struktur die Ab-Bilder eines jungen Mädchens und
eines alten Mannes prismatisch gebrochen und so auf das Äußerste geschärft
erscheinen. (C.R.)
ABLAUF
16.00 Constanze
Ruhm / Begrüssung, Vorstellung der
TeilnehmerInnen
16.15 Keynote
Ines Kleesattel, Dokumentarische Wahrheitspolitik und die
Waffen der Fiktion
„Das Reale
ist immer Gegenstand der Fiktion“, erklärt Jacques Rancière und positioniert
sich klar gegen dokumentarische Authentizitätsbehauptungen à la Guido Knopp.
Rancière stimmt darin mit philosophischen Konstruktivismen ebenso überein wie
mit einem Medialitätsbewusstsein, das bereits die Anfänge von fotografischer
und filmischer Dokumentation begleitete und mit unterhaltsamen Mockumentarys
längst im Mainstreamkino angekommen ist. Zugleich geht Rancière jedoch darüber
hinaus, bloß demystifizierend festzustellen, dass Realität sich als
Konstruktion zeigt. Dass philosophische, historische und dokumentarische
Wahrheiten stets „Fiktionen“ (d.h. geformt und hergestellt) sind, heißt für ihn keineswegs, „dass
sie null und nichtig sind, sondern dass sie Waffen in einem Krieg sind; keine Werkzeuge, die es erlauben, ein Gebiet
abzuschlachten, sondern Waffen, die dazu dienen, seine stets unsicheren Grenzen
festzulegen“. Er verteidigt das
normative Konzept eines Dokumentarfilms, der Realität nicht als Evidenz,
sondern als umkämpftes Problem darstellt. Auf diese Weise kann Dokumentation
Wahrheitsskepsis produktiv verknüpfen mit einer streitbaren Wahrheitsemphase –
ohne die emanzipatorisch-kritische Politik auf verlorenem Posten wäre.
Ich
werde Ranciéres Begriff der Fiktion als ästhetische wie politische Kategorie
vorstellen und zeigen, wie diese im Dokumentarfilm hegemoniale
Naturalisierungen stützen oder den
Horizont von Bedeutung und Wahrnehmung verschieben kann. Dabei will ich nicht
nur Waffen der Fiktion im umkämpften Feld von Wahrheits- und Geschichtspolitik
herausarbeiten, sondern auch die Dringlichkeit eines Dokumentarischen betonen,
das seine Fiktionen gerade dort auf Wahrheit verpflichtet, wo diese zu
verschwinden droht. (I.K.)
17.00 Axel Stockburger, Einige Überlegungen
zur Praxis des “Speculative Staging” in Aernout Mik’s Installation “Speaking in
Tongues”
Im Zusammenhang mit seiner Videoinstallation “Speaking in Tongues”,
die im Rahmen des Global Prayers Projektes im Berliner Haus der Kulturen zu
sehen ist, verwendet Aernaut Mik den Begriff “Speculative Staging” um auf den
Status seiner “fiktionalen” Videoarbeiten in Bezug zum dokumentarischen
Material das einen wesentlichen Teil seiner Installation ausmacht zu klären.
Diser Begriff und die damit verbundene Praxis scheint mir vor allem in Hinblick
auf die Bedeutung des Performativen in Spannungsfeld von Fiktion und
Dokumentation einige relevante Fragen aufzuwerfen. Unter anderem wird das
Analyse des dokumentarischen Materials; in diesem Fall Aufnahmen von
verschiedenen neuchristlichen Kongregationen (pentecostal churches) in
Brasilien und Nigeria zum Ausgangspunkt für eine tiefgreifende Analyse der
quasi-religiösen Mitarbeitermotivations und medialen Repräsentationsformen
gegenwärtiger globaler Firmen. Dabei taucht auch die Frage auf in welcher Weise
mediale Repräsentationsformen in ihrem Kern performative Aufgaben haben und
damit eine spezifische, ihnen angemessene Form der Dokumentation verlangen.
(A.S.)
17.15 Dominik Kamalzadeh zu "Der Letzte der Ungerechten" und "The Act of Killing"
Claude Lanzmanns "Der Letzte der Ungerechten" über den
Rabbiner Benjamin Murmelstein und Joshua Oppenheimers "The Act of
Killing", der erste Film, der sich mit den Säuberungsaktionen in Indonesien
unter Suharto befasst, waren zwei akklamierte, gewichtige Dokumentarfilme des
letzten Jahres. In beiden, in vieler Hinsicht unterschiedlichen Arbeiten geht
es um die Auseinandersetzung mit zeithistorischen Ereignissen, die sich in der
offiziellen Geschichtsschreibung als besonders problematische Felder erwiesen
haben und die in der Gedächtnispolitik durchaus umkämpfte Positionen nach sich
zogen. Es braucht ungewöhnliche, "atypische" Verfahrensweisen
vonseiten der Filmemacher, um diese Geschichte(n) zu öffnen und zu
veranschaulichen - einen Akt der Sichtbarmachung, bei dem sich auch Fragen nach
der dokumentarischen Ethik stellen. Einige der ästhetischen Erwägungen dieser
Filme sowie ihre Implikationen sollen in dem kurzen Vortag skizziert werden.
(D.K.)
17.30 Annja Krautgasser, Das Remake als doku-fiktionales
Stilmittel
Basierend auf einer 2011 enstandenen Arbeit mit
dem Titel Remake Romanzo Criminale, in der Jugendliche eines
italienischen Roma-Camps selbstiniziiert einzelne Episoden des Mafiafilms Romanzo
Criminale (Michele Placido, 2005), basierend auf dem gleichnamigen
Dokufiktions-Roman des italienischen Richters Giancarlo De Cataldo (2002)
nachstellen, möchte ich sowohl das Dilemma migrantischer Täterzuschreibungen
thematisieren, als auch die filmische Praxis der Inszenierung – dem Remake,
Reenactment – aufzeigen.
In Remake Romanze Criminale ahmen
die Jugendlichen akribisch, aber auch sehr spielerisch bis kindlich, ihre
Idole aus dem Gangster-Milieu nach. Gleichzeitig kommen die selbstgewählten
Rollenzuschreibungen den gesellschaftlichen Stereotypen, mit denen sie als Roma
immer wieder konfrontiert werden, äusserst nahe.
Gewalt als Mittel zur Macht erscheint für sie
attraktiv, vermittelt aber auch die Ausweglosigkeit ihrer
gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Zugeschriebenheit.
Im Spiel der Jugendlichen bildet sich damit die ganze Tragweite der
gefährlichen Überschneidung zwischen Realität und Fiktion, zwischen
möglichen Wirklichkeiten und Wünschen in der Lebenswelt junger Roma im
gegenwärtigen Italien, ab. (A.K.)
17:45 Thomas Heise
denkt nach über die Entdeckung der Welt
außerhalb unserer Vorstellung, die praktische Arbeit
damit, den Unterschied zwischen Dasein und Darstellung, und das Verschwinden
als Gegenstand. (T.H.)
18.00 Constanze
Ruhm, REPLAY: ANNA
REPLAY: Anna ist Teil einer Serie mehrerer Kurzfilme (in Produktion) unter
dem gemeinsamen Titel INVISIBLE PRODUCERS,
die sich mit dem Thema der Projektion im film-technischen wie auch im
psychoanalytischen Sinn auseinander setzen. Im Zentrum von REPLAY: ANNA steht der bereits erwähnte Film ANNA von
Grifi/Sarchielli (Italien 1972 - 74), der einerseits dem cinema verité verpflichtet ist, andererseits eine Reihe
fiktionalisierender Elemente beinhaltet (in Form von Re-Inszenierungen,
Wiederholungen, Zwischentiteln etc.). Am Ende steht der (behauptete) Tod des
Mädchens Anna. Mein Beitrag nimmt diesen (unbestätigten) Tod der Figur,
der vielleicht einfach bloß ein Verschwinden war, zum Anlass, das Verhältnis
von Dokumentation und Fiktion zu untersuchen.
„ANNA ist
ein Video-Band, das 1972 - 73 mit einer AKAI - Apparatur im Viertelzollformat
aufgenommen wurde und das Alberto Grifi 1975 mit einem Apparat seiner
Erfindung, dem Vidigrafo, auf 16 mm-Film übertrug. ANNA existiert in drei
Versionen: einer langen (11 Stunden) auf 1/4-Zoll Videoband und einer kürzeren
(4 1/2 Stunden) auf 1/2 Zoll-Videoband. Die dritte Version ist die 16
mm-Filmversion (3 1/2 Stunden). Der Film entstand in Zusammenarbeit von Alberto
Grifi mit Massimo Sarchielli, einem Schauspieler, der eine wichtige Rolle als
Vermittler zwischen der Kamera und der ,Heldin‘ spielt. Er zeigt die reale
Situation Annas, eines 16 Jahre alten drogenabhängigen Mädchens, das schwanger
ist, Massimo Sarchielli auf der Piazza Navona kennenlernt und von ihm zu Hause
aufgenommen wird. Zur gleichen Zeit filmten die Regisseure das, was sich in Rom
im Milieu der Randgruppen ereignete.“ Adriano Aprà, L'Art Vivant, Paris,
Februar 1975. (C.R.)
Anschliessend Diskussion
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